sophia teutonica

Hildegard von Bingen

BYU

 

Brigham Young University

College of the Humanities

 

© 2011

Alle Facsimiles nach dem  sog. “Riesenkodex” der Landesbibliothek Wiesbaden.

 

 

Scivias - Wisse die Wege   

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     - Buch I  

[Visionstexte und Illuminationen des Rupertsberger Kodex, ndh, PDF]

 

Liber vitae meritorum -  Das Buch der Lebensverdienste

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Liber Divinorum Operum— Buch der göttlichen Werke  

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Ordo Virtutum - Der Reigen der Tugenden 

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Symphonia - Gesänge   

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Liber simplicis medicinae sive Physica - Das Buch der Heilkunde   

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Expositio Evangeliorum -  Predigten   

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Epistulae - Briefe   

[manuscript facsimile]   [PDF, lat.]   [HTML, lat, Auszüge]

Hildegard von Bingen wurde im Jahre 1098 in Bermersheim geboren. Sie erlangte besondere Bedeutung durch die Niederschrift und Veröffentlichung ihrer Visionen, mit denen sie die Tradtion der Frauenmystik des 12. und 13. Jahrhunderts begründete. Ihr bekanntestes Werk sind die drei Bücher des Scivias (Wisse die Wege).

 

Ihre auf distanzierte Visionsbeschreibung und anschließender Erklärung basierende Visionsmystik unterscheidet sich jedoch von der auf Braut- und Minnemotiven basierenden Gefühlsmystik ihrer Nachfolgerinnen (Mechthild von Magdeburg) wie auch von der spekulativen Gedankenmystik Meister Eckharts und seiner Schüler.

 

Hildegard trieb umassende naturkundliche und medizinische Studien, die heute zu den Standardwerken der aternativ orientierten Medizin gehören. In der Musik verfasste sie zahlreiche auf der Basis gregorianischen Gesangs basierende Gesänge eines ganz eigenen Personalstils. Von ihr stammt auch das erste überlieferte auskomponierte Musikdrama der europäischen Musikgeschichte, der Ordo Virtutum. In ihrem Briefwechsel mit führenden Vertretern der geistlichen und weltlichen macht zeigt sie sich als selbstbewusste Gesprächspartnerin, die nicht davor zurückschreckte, selbst gegenüber Papst Eugen III und Kaiser Friedrich Barbarossa Kritik zu äußern und Ratschläge zu erteilen.

 

 

 

Auszüge aus Scivias - Wisse die Wege

 

Aus dem I. Buch, 1. Schau

 

(Für Hörversion hier rechsklicken)

 

 

Die Vision

Ich sah einen großen Berg von der Farbe des Eisens. Auf ihm saß eine Gestalt von solchem Glanz, dass ihre Helligkeit mein Auge blendete. 

Von ihren beiden Seiten ging ein lichter Schatten aus, der sich wie wundersame breite und lange Flügel ausdehnte.

Am Fuße dieses Berges stand eine Gestalt, die überall voller Augen war.

Und vor dieser gewahrte ich eine dritte Gestalt, ein kindliches Wesen in farblosem Kleid und in weißen Schuhen. Auf ihr Haupt fiel ein so glänzendes Licht, dass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte.

Überdies waren beide Erscheinungen von einem glitzernden Funkenregen umhüllt, der von dem auf dem Berg Thronenden ausging.

In dem Berg selbst sah ich zahlreiche Fenster, in denen [weiße und] bleiche Menschenköpfe erschienen. 

Plötzlich rief die Gestalt mit gewaltiger durchdringender Stimme:

“O du gebrechlicher Mensch, Staub vom Erdenstaube, verkünde das Nahen der endgültigen Erlösung, damit jene unterwiesen werden, die das Wort der heiligen Schrift zwar sehen können, aber doch nicht beherzigen wollen, weil sie lau und stumpf sind im Kampf für Gottes Gerechtigkeit.

Öffne ihnen das Siegel der Geheimnisse, das sie auf verborgenen Acker furchtsam und fruchtlos vergraben haben.  Breite dich wie ein übervoller Quell aus und ströme die mystische Lehre so überzeugend aus, dass besonders jene von solcher Ausgießung und Bewässerung erschüttert werden, die dich [als Frau] wegen Evas Fall für nicht beachtenswert halten.

Denn du hast diese Lehre nicht von einem Menschen übertragen bekommen, sondern vom höchsten Richter aus der Höhe.

Der aber, der allen Geschöpfen machtvoll und gütig gebietet, erfüllt diejenigen, die ihn achten und ihm dienen, mit der Klarheit übernatürlicher Erleuchtung und führt die auf dem Weg der Gerechtigkeit Ausharrenden zu den Freuden ewiger Schau.“

 

Die Deutung

Der große eisenfarbige Berg versinnbildlicht die Kraft und Beständigkeit des Gottesreiches, dass durch keinen Ansturm der Veränderungen auf Erden beeinträchtigt werden kann.

Die Gestalt auf dem Berg ist der Herr der Erde. Seine Göttlichkeit ist für den Menschen unbegreiflich. Das Leuchten seiner Erhabenheit blendet das Auge. Doch die Flügel  seines Schattens bieten den Lebenden Schutz gegen alle Anfechtungen und zeigen ihnen an, dass Gott ihnen gewogen ist und ihnen Gerechtigkeit widerfahren lässt.

Die Gestalt am Fuße des Berges ist deshalb überall voller Augen, weil sie in der Furcht des Herrn zu Gottes Reich aufblickt. [...] Sie bemüht sich um eine durchdringende Schau, damit sie Gottes gute und gerechte Absichten erfahre und wirkt mit beständigem Eifer auf die Menschen ein. Diejenigen, die aus irgendeinem Verdruss in ihrem Herzen an Gott und seiner Gerechtigkeit zweifeln, weist sie mit einem schaften Blick zurecht, und nichts vermag ihre Achtsamkeit zu erschüttern.

Vor dieser mit vielen Augen suchenden Gestalt zeigt das kindliche Wesen in farblosem Kleid und weißen Schuhen, dass nach denen, die eifrig dem Herrn dienen, die Armen im Geiste kommen.  [...] Auch ihnen lässt der auf dem Berg Thronende das Licht er Klarheit zuteil werden, doch ist es so stark, dass ein schwacher Sterblicher es nicht zu ertragen vermag. [...]

In den zahllosen Fenster des Berges werden die Bewohner der Erde sichtbar, deren Tun und Lassen dem von der höchsten Höhe Herabschauenden, also der Erkenntnis Gottes, nicht verborgen bleiben kann. [Sie tragen das Zeichen ihrer Reinheit oder Lauheit an sich.] [...]

 

Aus dem II. Buch, 12. Schau:

[...] Ich sah alle Elemente und Kreaturen von grausiger Bewegung erschüttert. Feuer, Luft und Wasser brachen hervor, die die Erde bewegten. Blitze zuckten und Donner ertönten. Berge und Wälder fielen über einander, so dass jedes sterbliche Wesen seinen Lebensatem aufgab. Alle Elemente wurden so gereinigt, dass aller Schmutz in ihnen ganz entschwand.

Und ich vernahm eine Stimme über den ganzen Erdkreis rufen:

                 „Stehet auf, alle ihr Menschenkinder, die ihr auf der Erde liegt!“

Und siehe, alle Gebeine der Menschen, wo immer sie auch auf der Erde lagen, wurden im Nu gesammelt und wieder mit ihrem Fleische bedeckt.

Jedes Geschlecht erhob sich unversehrt an Leib und Gliedern. Die Guten erstrahlten großer in Herrlichkeit, die Bösen erschienen in tiefe Dunkelheit in gehüllt, so dass eines jeden Werk offenbar wurde.

Einige von ihnen waren mit dem Siegel des Glaubens bezeichnet, andere nicht. Ein Teil war vorn auf der Stirn mit einem großen Glanz ausgezeichnet. Ich sah aber auch welche, die dessen entbehrten.

Plötzlich leuchtete vom Osten her ein heller Blitz auf, und in einer Wolke erschien der Menschensohn, genau so, wie er auf der Welt aussah: mit entblößten und geöffneten Wunden. Engelchöre umgaben ihn auf seinem leuchtenden, jedoch nicht brennenden Throne.

Nun begann der gewaltige Reinigungssturm der Welt. Jene, die bezeichnet waren,  wurden ihm entgegen in die Luft wie in einen Wirbelwind gerissen. Die Guten wurden von den Bösen getrennt.

Eine einladende Stimme pries die Gerechten des Himmelreichs würdig, wie es auch im Evangelium bezeugt ist. Dieselbe Stimme überantwortete mit schrecklichem Tone den ewigen Strafen, wie es geschrieben steht. Es wird keine Probe und Antwort mehr von ihren Werken gefordert außer der, die das Evangelium angibt. Denn eines jeden Tun, sei es gut oder schlecht, wird an ihm offenbar.

Jene Unbezeichneten aber standen weit ab in der  Teufelsgegend im Norden und wurden zu diesen Gericht nicht zugelassen. Doch auch sie sah ich in einem Wirbel stehen, weil sie das Ende des Richterspruches erwarteten.  Und ich hörte sie bittere Seufzer ausstoßen.

Als das Gericht beendet worden war, hörten Blitze, Donner, Winde und Stürme auf. Alles Vergängliche an den Elementen verschwand und tiefste Ruhe trat ein.

Die Auserwählten strahlten noch heller als die Sonne und eilten mit dem Sohne Gottes und den glückseligen Engeln voll Freude zum Himmel, während die Verworfenen mit dem Teufel heulend zur Hölle strömten. So nahm der Himmel die Auserwählten auf, die Hölle aber verschlang die Verworfenen.

Bald erglänzten auch die Elemente in schönster Heiterkeit, als wäre ihnen die schwarze Haut abgezogen worden. Sonne, Mond und Sterne, als der hauptsächlichste Schmuck des Firmaments, strahlten voll Zier und Glanz. Sie verharrten ohne Bewegung, so dass der Tag von der Nacht nicht mehr zu unterscheiden war, sondern es immer Tag war.

Wieder hörte ich die Stimme zu mir sprechen:

[...] Diese Geheimnisse zeigen die jüngste Zeit an, in der die Zeit in das Leuchten der Ewigkeit übergeht, das ohne Ende ist.

Die jüngste Zeit wird nämlich durch viele Gefahren beunruhigt., und der Untergang der Welt durch verschiedene Zeichen deutlich gemacht. Wie nämlich den Menschen bei seinem Ende viele Schwächen befallen und er in der Stunde des Todes unter großen Schmerz aufgelöst wird,  so eilen auch dem Ende der Welt die größten Widrigkeiten voraus.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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