sophia teutonica |
Denkmäler Deutschen Denkens |
Als charakteristisches Merkmal dieser sophia teutonica tritt die Tendenz hervor, das Sein als ein ursprüngliche Einheit zu denken, welche sich im dialektischen Spiel polarer Gegensatzkräfte entfaltet. Als Gegensatz von Geist und Natur, Phänomen und Ding-an-sich, Ich und Nicht-Ich, These und Antithese, Formtrieb und Stofftrieb, Denken und Wahrnehmung und in vielen weiteren Spielarten finden wird dieser Gedanke bei den verschiedenen Philosophen ausgebildet. Charakteristisch ist ferner, dass in Lichte solcher Dialektik jede Seinsgestaltung letztlich dadurch seine Erfüllung erfährt, dass sie sich selbst als bedingt erkennt und sich als das, was sie ist, selbst aufhebt. So entfaltet sich ein Denken, welches das ihm Fremde - in welcher Gestaltung es auch immer gedacht wird - nicht zu beherrschen und von sich fernzuhalten sucht, sondern sich darin selbst zu erkennen und anzuerkennen sucht; es denkt ein „Selbst“, welches weiß, dass es nur in und durch und mit dem “Anderen” zu sich selbst kommen kann. |
Als Seitenstück zum Rudolf Steiner Online Archiv soll an dieser Stelle eine Sammlung von Texten entstehen, die den Weg des deutschen kontemplativen und spekulativen Geistes nachzeichnen, von der mittelalterlichen Naturphilosophie einer Hildegard von Bingen und der mystischen Spekulation eines Meister Eckhart über die von Paracelsus und Jacob Böhme inspirierten Strömungen bis in die Weltanschauungen Goethes und Schillers, den Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels und die (scheinbar?) in ganz anderen Bahnen verlaufenden Denkwege eines Marx, Nietzsche, Stirner und Freud - dorthin also, wo Rudolf Steiner das Gedankenerbe der teutonici Ende des 19. Jahrhunderts aufgriff und sich die Aufgabe stellte, dieselbe mit dem Geist moderner Erfahrungswissenschaft zu durchdringen und als zeitgemäße Geistes-Wissenschaft oder Anthroposophie für das Leben der Gegenwart fruchtbar zu machen.
Heinrich Seuse wird von der ewigen Weisheit belehrt Illumination aus einem Manuskript des Horologium Sapientiae (1339) |
Angesichts der intellektuellen, sozialen und spirituellen Herausforderungen der Gegenwart tritt der Wert einer solchen zur Integration und Selbstverwandlung willigen und fähigen Geisteshaltung immer deutlicher hervor. Die Einsicht Schillers, dass der Mensch (und somit notwendig auch die Welt) solange “Bruchstück” bleiben muss, solange er sich nur an ein Bruchstück der Wirklichkeit hängt - an eine Methode, ein Credo, eine Wahrheit oder ein Selbst -, diese Einsicht erscheint heute so aktuell wie ehedem. Jeder theoretische und praktische Versuch einer Überwindung solcher Ein-Seitigkeit im Denken, Empfinden und Handeln steht somit in der geistigen Tradition der hier dokumentierten sophia teutonica.
zuletzt aktualisiert am 3. September 2010
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Illustration aus dem Manuskript von Jakob Böhmes Aurora (1612) |